Sonntag, 17. Juli 2016

EM-Blog: Endspiel


Nichts ist vergänglicher als die Zeit. Klingt kitschig, bisweilen philosophisch und vielleicht sogar melancholisch – ist es auch. Und doch beinhaltet jenes Sprichwort einen anständigen Wahrheitsgehalt.

Erst noch eröffnete die französische Nationalmannschaft im Kick gegen Rumänien ihre heimische EM. Offiziell vier Wochen und 51 Spiele später – oder gefühlte zwei Wochen für Normalsterbliche.. maximal - fanden sich die Männer von Deschamps im EM-Final wieder. Der Kreis hatte sich im Saint-Denis geschlossen und das Kapitel Euro 2016 beendet. Aber alles der Reihe nach.

Die Gruppenphase erreichte den Unterhaltungswert eines Uwe-Boll- und den Tiefgang eines Michael-Bay-Streifens. Will sagen, wenn sich rund 2/3 aller Teams für die nächste Runde qualifizieren, fehlen grundsätzlich Gehässigkeiten, Spektakel, tollkühne Szenen, schöne Tore und UFO-Invasionen. Vielleicht war das Wetter einfach zu einladend, sodass sich die in Festlaune versetzten Spieler lieber brüderlich umarmten und sich gegenseitig den Vortritt liessen anstelle von Krieg auf dem Platz. Prähistorische Wandmalereien prophezeiten bereits vor unserer Zeit jenen Umstand.

Um beim Fantastischen anzuknüpfen: Meine These, dass das Jahr 2016 einige Überraschungen bereit hielt, sprich Island EM-Sieger würde, hat sich natürlich nicht manifestiert. Doch dürfen einzelne kleinere Anomalien ein grosses Ganzes ergeben. Island spielte munter mit. Ehrlicher, aufrichtiger, harter und leidenschaftlicher Einsatz versetzten eine ganze Insel in Ekstase und verzauberten die ganze Welt. Vor dem Turnier als Kanonenfutter abgestempelt, erspielten sie sich einen Viertelfinalplatz. Dieser sympathischer Neuling ist eines meiner Highlights an einer sonst (fast) ereignis- und torarmen EM. 

Auch ein weiterer Rookie war nicht als Tourist, sondern zum Fussballspielen, angereist. Angeführt von Ramsey, Bale und Co erstürmten sich die Waliser ein Halbfinalticket, wo sie dem späteren Europameister unterlagen. Auf ihrem Weg schossen sie (mit Ungarn) die meisten Tore in der Vorrunde und zerlegten Belgien dermassen brutal, dass heute noch der Ausnahmezustand in Brüssel ausgerufen ist.

Mit der Spielfreude eines Juniors und der Unbekümmertheit eines vier jährigen Kindes rushten die Waliser nach vorne und schlossen ihren Exploit fast perfekt ab. Ein weiterer Turnierknüller!

Positiv in Erinnerung bleibt auch die Schirileistung (abgesehen von Payet’s Attacke auf Ronaldo). Kaum grobe Schnitzer, nur eine rote Karte (neben zwei Gelb-Roten). Das einzige Mysterium bleibt die Existenz und Aufgabe der Torrichter. Ein Hauch von Illuminati im Fussball.

Allgemein fehlten für mich aber persönlich einige Zutaten für ein würziges und rassiges Turnier: epische Schlachten mit Platzverweisen, strittigen Situationen und hochkochenden Emotionen sah ich im letzten Monat nur auf Bluray. Auch Tore blieben leider Mangelware. Zum Glück standen auf beiden Seiten des Platzes jeweils ein Gehäuse. Sonst hätten wir noch weniger zu Gesicht gekriegt.

… und der Europameister?

Und dennoch, gerade die Art und Weise, wie Portugal den Thron bestiegen hat, passt zum ganzen Turnier, entpuppt sich aber als Feel-Good-Story.

Ein stolzes Völkchen, einst eine mächtige Seefahrergemeinschaft, dürfen sich die knapp 11 Mio Einwohner heute erneut als Könige von Europa bezeichnen. Die Portugiesen waren schon immer bekannt für ihre technischen und spielerischen Fähigkeiten, ihre Leidenschaft für das runde Leder und für ihren Unterhaltungswert (manche sagen sie besässen den IT-Faktor oder einfach tschutt Swag). 

Seit zwanzig Jahren brillieren Figo, Rui Costa, Maniche, Deco und Ronaldo auf höchstem Level – ständig im Schatten der Spanier – doch die ganz grosse Krönung blieb ihnen verwehrt. Ihren Zenit erreichten sie 2004, just an ihrer Heim-EM. Gegner, Haters und die Holländer wurden damals von einer kraftvollen und starken Welle aus dem Weg geräumt bis die Griechen im Final dem Zauber ein Ende setzten. Der Rest ist Geschichte. Sparta fiel nicht.

Seit dem verblassten die Spielernamen auf dem Papier, aber sportliche Ausrufezeichen setzten sie an der WM 2006 und EM 2012, wo sie jeweils im Halbfinal scheiterten. 

Die einzig beständige Konstante bis heute ist und war Ronaldo. Der dreifache Fussballer des Jahres sammelte individuelle und teambasierende Trophäen, Frauenslips und Tore wie kein Zweiter. 

Der schöne Fussball blieb unbelohnt. Zeit, die Formel zu ändern und resultat- und erfolgsorientiert  zu arbeiten. Der alte Fuchs und geniale Taktiker Fernando Santos verstand diese Umsetzung und kreierte ein brüderliches Mannschaftsgefüge. 

So qualifizierte sich Portugal als Gruppendritter und traten Extraschichten gegen Kroatien, Polen und Frankreich an. Nur 1 Sieg nach 90 Minuten? Ja, aber auch ungeschlagen. Der Auftritt der Seleção Lusa beinhaltete weniger Spektakel, Glamour und Zauber als vor 10 Jahren, erwies sich schliesslich aber als zielführender. 

Dann kam der Gastgeber im Finale. Ronaldo, wessen Schultern eine gigantische Last zu tragen pflegten, der so oft Wunder bewirken, Spiele alleine entscheiden, Kranke heilen, die Frauen verstehen oder sein Land zum ultimativen Coup führen sollte, wurde beinahe die tragische Figur im Endspiel.

Über den ganzen Wettkampf hinweg - trotz beachtlichen Skorerpunkten - unter seinem Wert spielend, der seinem Land den Titel so unglaublich intensiv schenken wollte, schied früh aus.

Der brutale Angriff auf seine Persona blieb ungesühnt. Weder der Schiri noch Pepe liessen sich was anmerken. Nicht einmal der Torrichter zuckte mit der Wimper. Die verschworene Einheit der Portugiesen raffte sich auf und gewann den Titel auch für Ronaldo. Solidarisch, brüderlich, überraschend. Dass gerade Eder die Franzosen ins Tal Tränen und seine Landsmänner auf Wolke 7 ballerte, ist die logische Konsequenz.

Der Titel, der Portugal 2004 so verdient gehabt hätte, wurde leicht im Verzug, am 10. Juli 2016, gewonnen. Das Ende eines Fluches, die Erlösung, eine Genugtuung für Portugal und die Fussballgötter, 12 Jahre später. 

Kritiker meinen, es bestünden gewisse Parallelen zu den Griechen. So what? Frankreich wurde in Frankreich besiegt. Eine Feel-Good-Story eben. 

Ein alter Freud, Jim Gordon, würde es in etwa so ausdrücken: Portugal ist der Held, der die Europameisterschaft verdient.

Herzliche Gratulation Portugal und wer weiss, vielleicht hören und lesen wir uns wieder in zwei Jahren.

Sonntag, 3. Juli 2016

EM-Blog: Verlängerung



Wer vor der EM freiwillig erklärt hätte, dass sich die EM-Neulinge Wales und Island am Schluss unter den besten 5 Nationen tummeln würden, wäre wohl direkt in ein Irrenhaus eingeliefert worden.

 In Zeiten, wo Spanien, Deutschland, Frankreich, Italien, Holland (gelogen) oder Belgien (das neue Holland?) auf den Platz treten, haben Rookies grundsätzlich nichts zu melden. 

Nicht so im Jahr 2016. Die ungewöhnliche Sternenkonstellation setzt alle gängigen (Fussball)Gesetze und allgemein die Vernunft für 365 Tage ausser Kraft. Alles ist möglich. 

Besonders hervorheben möchte ich Wales. Die Blog-Veteranen erinnern sich noch an meinen Geheimtipp Island. Nicht minder aufregend ist die Geschichte der Kelten aus dem Land des roten Drachens.

Ohne Praxiserfahrung spielen sie die Slowaken und Russen an die Wand, verlieren unglücklich gegen den grossen Rivalen England und hauen (Zitat Bazel: Geh-heim-favorit) Belgien aus dem Turnier. 

Jetzt wartet ein aufgescheuchtes Portugal mit Ronaldo, der weiter von seiner Bestform entfernt ist als der Neptun von der Sonne, im EM-Halbfinale. Für alle Hausfrauen unter Euch, bedeutet dies, dass entweder Wales oder Portugal in den EM-Final einzieht.

Das Geheimnis des Erfolges: „I wanna stay here, drink all your beer“

Offensichtlich schmeckt das französische Bier den Walisern äusserst vorzüglich. Der Kurvenhit „Don’t take me home“ hat sich zu einer Schlachthymne entpuppt, welche den Spielern uneingeschränkte Energie zu verleihen scheint.

Mit viel Leidenschaft, unbändigem Einsatz, Kampf, Organisation und Innovationen (Freistösse! Ecken!) und einer Teamleistung, die noch in 100 Jahren an Universitäten als Musterbeispiel für eine geschlossene Mannschaftsleistung und als Synonym für Team gelehrt wird, und der individuellen Klasse von Bale und Ramsey, sorgen die Inselbewohner für frischen Wind im Fussballbusiness. 

An dieser Stelle verdient Bale ein kolossales Kompliment. Ohne Starallüren ackert und rackert er selbstlos im Dienst der Mannschaft – keiner, der ständig seine Arme verwerfen muss. Diese tadellose Einstellung verdient den Megapron-Award! MVP mdafcka.

Extrem sympathisch, ohne Mätzchen (Schwalben bspw.) und mit ehrlichem Fussball weiss Cymru die Massen zu enthusiasmieren. Hart, aber herzlichen eben. Das Sommermärchen geht weiter…

East vs West

Auf der anderen Seite des KO-Modus kämpfen grosse Fussballmächte um das andere Finalticket. Titelverteidiger Spanien ist auf der Strecke geblieben, Italien hat’s gestern Abend erwischt. Ein Hauch von NBA Western Conference an der Euro. 

Die logische Halbfinalpaarung ist Deutschland vs Frankreich. Aber im Fussball und spezifisch im Jahr 2016 ist Logik unangebracht. Island wird heute Abend mit allen Mitteln um sein Leben grätschen, rennen und die Franzosen jagen. Franzosengschnätzles à la Wikingerart.

Kleine Ergänzung zur EM-Prophezeiung: Nicht nur Island, sondern auch Wales erfüllt grundsätzlich die Voraussetzungen des Orakels (nicht unweit südlicher von Dänemark, sofern Messfehler in der Vergangenheit kein Ding der Unmöglichkeit waren)

Musiktipp

Der Sommerhit 2016 schlechthin: https://www.youtube.com/watch?v=o9CR583iBu4